Das Pfeifen der Tür
Ein leerer Kühlraum ohne Dieb, nur ein Ton im Luftzug. Pröll hört die Uhr im Pfeifen—und findet die Hand am falschen Griff.
In derselben Nacht sang die Schlossgang-Tür wieder ihr dünnes A – diesmal hörten wir genauer hin.
Der Kühlraum war nüchterner als sonst. Keine Flasche schief, kein Schloss gebrochen – und doch lag in der Luft etwas Dünnes, als hätte jemand kurz die Kälte angehalten. Wenn die Tür zum Schlossgang auf einen bestimmten Winkel stand, pfiff sie einen feinen Ton, der einem durch die Knochen fuhr.
„Wer die Zeit hören kann, spart sich eine Uhr“, sagte Inspektor Pröll. Er hielt die Tür millimeterweise. Das Pfeifen sprang eine Nuance tiefer. „Bei diesem Winkel sind wir nahe A. Und wenn’s kühler wird, rutscht der Ton. Sagen wir: heute Nacht. Um zwei Uhr acht gab’s einen Stromausfall, meint Sepp.“
„Und was sagt uns das?“ fragte Frau M., die beide Hände in den Manteltaschen verstaute, als müsste sie ein kleines Geheimnis festhalten.
„Dass jemand den Luftzug bewusst gehalten hat“, sagte Pröll. „Musik ist Physik mit Gefühl.“
Sepp kam mit einer alten Taschenlampe, deren Griff blank war wie eine Ausrede. „Sicherung g’falln, Lichterkett’n kurz komplett finster“, brummte er. „Und die Tür hat g’pfiffen wia a Teekessel.“
Wir stellten die Szene nach. Tür ein Stück offen: hoher Ton. Ein Finger weiter: tiefer. Als der Luftstrom die Kante eines Holzstapels streifte, hörte ich zusätzlich ein trockenes Zischen, das kein Zufall war. „Da“, sagte ich, „da schabt was.“
Hinter dem Stapel fanden wir eine schmale, fast vergessene Tür. Die Klinke fehlte, nur ein kaltes Loch in der Platte. „Uns’a aulta Nebenraum“, murmelte Sepp. „Do lieg’n Restln, Bretter, Erinnerungen.“ Er schob die Tür mit der Schulter auf. Der Geruch dahinter: Holz, Staub, ein Hauch Harz – und etwas Kühles, das aus dem Stein kam.
Am Boden lag ein winziges schwarzes Kästchen, staubig, billig, mit einer toten LED. Pröll hob es mit zwei Fingern auf. „Datenlogger“, sagte er. „Jemand wollte unsere Temperaturgeschichte mitschreiben.“ An der Kante des Holzstapels klebte grünlicher Lackabrieb, zart wie Pollen.
Pröll tippte zweimal auf den Logger. „20:46 bis 20:51“, las er leise. „Genau die Lücke, in der man etwas Großes bewegt, ohne dass die Kälte schreit.“ Niemand sagte „Magnum“. Wir dachten es nur.
„Wenn einer hier stand und die Kühlraumtür nur einen Spalt hielt, sprang der Kompressor knapp nicht an“, sagte Johann, der im richtigen Moment auftauchte, als hätte ihn der Ton gerufen. „Am Morgen fühlt sich der Raum leer an, obwohl nichts fehlt.“
„Und wohin führte der Luftzug?“, fragte ich.
„Durchs HOLZLAGER“, sagte Sepp, und der Raum hatte plötzlich einen Namen, den er wiedererkannte.
Wir warteten den Lieferanten ab, der sich nach einer Reklamation in der Vorwoche ungehalten gezeigt hatte. Er kam, sah den Logger in Prölls Hand und tat, als interessiere ihn die Decke. „Ich hab nix genommen“, sagte er zu früh.
„Aber du host die Tür g’halten“, sagte Pröll freundlich. „Zwei Minuten und a paar Sekunden. Genug, um die Maschine zu verwirren. Warum?“
Der Mann zog die Kappe tiefer. „Damit ihr merkt, wie schnell’s kippt. Ich wollt’ keinen Schaden. Nur—“ Er verstummte. Das Pfeifen der Tür machte den Rest des Satzes überflüssig.
„Kält’ is ka Spielzeug“, sagte Lukas ruhig. „So wenig wie Vertrauen.“
Wir legten Leitungen sauber, gaben der Lichterkette einen eigenen Kreis, schraubten eine neue Klinke an, ölten das Scharnier. Das Pfeifen blieb – aber es klang jetzt wie ein freundlicher Hinweis, nicht wie ein Alarm. Den Logger legten wir in eine Schublade, der das Wort „Beweis“ verdient.
Am Abend stand ich allein im Gang, hielt die Tür genau auf dem Winkel, der das A bringt, und hörte zu. Es ist ein schöner Ort, zwischen zwei Tönen. Man spürt, wie das Haus atmet – und manchmal auch, wer mit ihm atmen will.
„Und falls es wieder pfeift?“, fragte Nino hinter mir.
„Dann hören wir zuerst hin“, sagte ich. „Und drehen danach erst an kleinen Schrauben.“
Draußen fand der Hof seinen ruhigen Takt. Drinnen roch es nach Holz und einer Entscheidung, die hält.
Pröll blieb noch einen Moment und leuchtete den Spalt der Tür ab. Am Holz klebte ein hauchfeiner grauer Abrieb, in der Bohrung der fehlenden Klinke glitzerte Messingstaub. „Hier hat vor Kurzem wer gearbeitet“, murmelte er. „Und der Luftzug – der kommt nicht nur von der Tür.“
Er legte das Ohr an die Wand. Tief unten antwortete ein gleichmäßiges hmp… hmp…, als würde das Haus leise atmen.
„Sepp, wohin läuft die Leitung da unten?“
„Owa, des ziagt nunter zum Pumpenhaus am Hång“, sagte Sepp. „Do schnauft seit zwoa Tog wås a bissl verkehrt.“
Pröll hob neben dem Türloch einen winzigen Fetzen grün verschmierten Kabelbinders auf und steckte ihn ein. „Morgen. Vor Morgengraun. Wenn der Nebel tief liegt.“
Fortsetzung folgt: E05 – Die letzte Lese am So, 16.11.2025, 19:00.
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